Montag, 6. Juli 2009

Ein Hauch von Provinz

von Professor Siegfried Rietschel

Die erste Beziehung war auf große Distanz: Patenonkel Georg, der Bruder des Vaters wurde vom Amtsgericht Urach zum Bundesrichter berufen. Von da an läuft der Tausch von Briefmarken über das unbekannte Karlsruhe; von dort kommen nun die liebevoll ausgesuchten Buchgeschenke in Dünndruckausgaben - es wird lange dauern, bis Kleist und Hebel wieder nach Karlsruhe zurückkehren.
In den fünfziger Jahren wird mir Karlsruhe zum Begriff. Zunächst als Beginn jener Autobahnsteigung, bei der die wackere 98er Viktoria-3-Gang dreimal eine frische Zündkerze braucht. Das heißt dreimal ob der verbrannten Finger fluchen. Dann wird Karlsruhe Beiwort zu den drei Autobahnausfahrten Durlach, Rüppurr und Ettlingen, die, dicht hintereinander, nicht zum Halt verlocken, wenn das Urlaubsgepäck im Auto drückt.
Die ersten Begegnungen mit der Stadt haben traurige Anlässe. Beerdigungen werden zu ungeplanten und ungewollten Familientagen, bei denen die Jungen nicht wissen, wer unter den Alten wer ist. Tanten und Onkel, die heitreren Beispiele in den Kindheitserinnerungen der Eltern, stehen teils betulich, teils hilflos umher und begrüßen mit feuchten Augen, Nasen und Mündern. Die Jungen entfliehen schließlich der schwarzen Schar mit der Alternative Stadtgarten und Schlossgarten. Der Schloßgarten, dem Friedhof näher, vermittelt das später immer wiederkehrende Erlebnis lieblicher offener Parklandschaft. Das durchsonnte Grün von mächtigen alten Bäumen und gepflegten Rasen, die mannigfaltigen Farbtupfer der Blumenrabatten überstrahlen bald den traurigen Anlass. Das Bild prägt sich dauerhaft in der Erinnerung ein.
Viele Jahre später, 1976, wird Karlsruhe durch die Jahrestagung der Paläontologischen Gesellschaft zu einem wichtigen Fachforum. Für die Fahrt von Frankfurt aus schrumpfen die drei kalkulierten Stunden aus der alten Motorradzeit auf die Hälfte. Das Universitätsgelände lockt kaum zum Verweilen; erst nach Campus-Erfahrungen in den USA wird es mit anderen Augen gesehen und geschätzt. Abends, in biedermeierlicher Atmosphäre gibt es lange Gespräche mit der liebend und rührend besorgten Tante. Tags, im nüchternen Chemieflachbau, Vortrag auf Vortrag, bis sich die innere Spannung löst, weil der eigene Vortrag durchgestanden ist. Das Vortragsthema, der Urvogel Archaeopteryx, wird dann Jahre danach von Karlsruhe aus als Forschungsthema weiterverfolgt.
Diese Tagung bringt auch den ersten Besuch in den mir noch unbekannten Landessammlungen, freilich mit Hindernissen. Die Tiefgaragenbaustelle des Friedrichsplatzes zwingt uns dazu, durch ein Hintertürchen zu schlüpfen. Von dort aus wird die Orientierung im Museum zunächst schwierig, doch dann erstaunt die Größe der Räume, die Qualität vieler Ausstellungsstücke. Ich hätte hier nie ein Museum vermutet und schon gar nicht ein so gutes, denn bis dahin waren mir die Landessammlungen eine vermutete Spitzwegidylle, ein Archiv, in dem ein versponnener Historienschreiber mit französisch klingendem Vornamen originelle sammlungsgeschichtliche Aufsätze schreibt. In eine Arbeitsgruppensitzung präsidiert der Museumsdirektor Dr. Jörg mit patriarchalischer Würde. Er nimmt meine heiteren Anmerkungen zu den Problemen mit Humor und, wie mir scheint, mit Sympathie. Es sind schließlich keine weltbewegenden Dinge, in die man sich in Karlsruhe verbeißen will. Aus meiner unbekümmerten Frankfurter Sicht ist die Sitzung ohnehin nur Beiwerk am Rande wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Es ist September. Auf einer Exkursion erstaunt mich die Nähe zum Elsass, zu Straßburg, begeistert mich die Schönheit der mir bis dahin unbekannten Vogesen. Unter vorzüglicher Führung werden für mich neue Seiten im Buch der Erdgeschichte aufgeschlagen. Am Ende steht wieder ds für die Jahreszeit erstaunlich frische Grün und die dezente Farbenpracht des frühherbstlichen Schlossgartens. Er wird beschauliches Asyl nach einem Besucher der faszinierenden Kykladen-Ausstellung im Schloss, wo mich die höfliche Aufmerksamkeit der Aufseher von der Türkenbeute vertreibt: sie reichen den einzelnen Vormittagsbesucher im fast leeren Haus durch Blickkontakte einander so dezent weiter, dass ihn bald eine ungemütliche Überwachungsatmosphäre umspielt.
Zwei Jahre später kommt es zu neuer Begegnung mit Karlsruhe. Sie bereitet einen neuen Abschnitt in meinem Leben vor. Eine zurückhaltende, aber ernst gemeinte Bewerbung auf die seit dem überraschenden Tod von Dr. Jörg verwaiste Stelle des Museumsdirektors macht mich zum aussichtsreichen Kandidaten. Einem Frankfurter wird es nicht leicht, Frankfurt zu verlassen, auch wenn das heutzutage nur noch Frankfurter verstehen können. Auf der Rückfahrt vom Skiurlaub wird erstmals eine Unterbrechung auf Höhe Karlsruhe eingelegt. Wer sonnenverbrannt in Anorak und ausgebeulten Hosen vom Urlaub heimkehrt, wirkt leicht abgerissen. Die Kinder betatschen die Scheiben der Mineralienvitrinen und werden schnell von der Aufsicht zurechtgewiesen. "Da wirst Du Dich von den hessischen Verhältnissen ganz schön umstellen müssen!" Dieser Satz meiner Frau wird, auch ohne den Hessenbezug, bald zum Motto.
Am 22. Mai 1978 ist es dann soweit. Ich fahre nach Stuttgart und gerate mitten in den Umbruch des alten Kulturministeriums hinein. Die Urkunde, die mir im neuen Ministerium für Wissenschaft und Kunst Professor Engler überreicht, ist noch vom "alten" Landesvater Filbinger unterschrieben. Nach der Vereidigung werde ich gebeten, mich am nächsten Tage doch selbst in mein neues Amt einzuführen. Karlsruhe ist weit und an hat in Stuttgart alle Hände voll zu tun. So merke ich überdeutlich, dass ich plötzlich auf eigenen Füßen stehe.
Viele im Verhältnis zu einer Stadt bestimmt sich in den ersten Stunden und Tagen der Begegnung. Schon auf dem Weg vom Bahnhof zur Innenstadt komme ich von der geraden Linie ab, da ich in Systemen von sich überwiegend rechtwinklig kreuzenden Straßenzügen groß geworden bin. Am ersten Abend wiederholt sich das Suchspiel in den Ästen des sich spreizenden Stadtfächers, bis die Kaiserstraße zur rettenden Grundlinie wird. Schnell beginnt das Gebiet um den Ludwigsplatz und die Herrenstraße, wo ich mich zunächst als möblierter Herr einnistete, eine heimelige Atmosphäre zu entwickeln. Quartiere wie dieses gibt es ja in allen größeren Städten, Quartiere, die ein Eigenleben führen und doch, wie abgekapselte Organe das größere Stadtganze brauchen. Hier bringt mir schon der erste Morgen in Karlsruhe die Konfrontation mit badischem Selbstbewusstsein: Drei Kriegsjahre auf einer oberschwäbischen Dorfschule ließen mir ein "Grüß Gott" zur Selbstverständlichkeit werden, sobald ich in Süddeutschland bin. Beim Brötchenkauf wird mir dieser Gruß sofort deutlich, wenn auch nicht unfreundlich, mit einem unchristlichen und preußisch kalten "Guten Tag" vergolten, mit kurzer, harter Betonung auf "Tag". In Frankfurt läge die Betonung eher auf dem "Guten", das sich bald zum "Gude" verkürzt. Man sollte in Karlsruhe wohl mit schwäbischen Untertönen immer noch zurückhaltend sein. Hingegen fühle ich mich stets verstanden, wenn ich bei gemütlichen Anlässen, wo der Dialekt hochkommt, hessische Töne anschlage.
Zum Start in Karlsruhe rufe ich alle Mitarbeiter zusammen und führe mich in einer Vorstellungszeremonie in mein neues Amt ein. Dieser erste Tag ist zugleich mein Geburtstag, und natürlich hat schon jemand herausgefunden und weitererzählt. So denke ich zunächst, dass das morgendliche Händeschütteln etwas mit dem Geburtstag zu tun hat. Bald merke ich jedoch, dass es als Sitte im Haus und als Mittel der Kontaktpflege geübt wird. Mir völlig ungewohnt, erinnert es an ein verbürgerlichtes Hofzeremoniell und wird mir zum Symbol der Provinz. Dieser Begriff trifft im positiven Sinne, ohne abwertenden Klang und Beigeschmack, besser auf Karlsruhe zu als viele andere Begriffe. Er bekommt sogar doppelsinnig eine neue Wertigkeit, indem durch das Vivarium sich langanhaltende und engste Beziehungen zur Provence bewähren. Für mich hat die Stadt noch viel vom freundlichen Residenzgeruch bewahrt, der in den meisten anderen, gleichrangigen Städten mit dem Staub der Kriegszerstörungen verflog oder in der Betriebsamkeit des Wiederaufbaus unterging. Ein solcher Hauch provinzieller Residenzatmosphäre tut der Seele gut, besonders dann, wenn er nicht gewollt herbeigezwungen und zum Nostalgiemarkt hochstilisiert ist. Er vermag der Stadt die unpersönliche Kälte des Häusermeeres zu nehmen und bringt die vielzitierte Lebensqualität, die für mich in Karlsruhe schon durch das hoffnungsvolle Grün der Anlagen, Gärten und Parks symbolisiert wird. Und so wird das Leben in dieser Stadt mir, dem durch die Kriegsereignisse auf dem Lande großgewordenen Großstädter, schnell vertraut und lieb. Bald beginnen sich Heimatgefühle einzustellen, und doch versuche ich häufig der distanzierte Beobachter zu bleiben. Er kann bisweilen Dinge sehen, die den Alteingesessenen wohl kaum noch ins Bewusstsein dringen. So beispielsweise das, was ich gleich im ersten Sommer heimlich als den "Karlsruhe Schnakentanz" bezeichnete: Auf Bordsteinen und an den Straßenbahnhaltestellen stehen Bürgerinnen und Bürger der Stadt gedankenverloren auf einem Bein, während der Fuß des anderen mit Innenkante oder Fußrücken vorsichtig und lustvoll die Strecke zwischen Knöchel und Kniekehle reibt. Intensives Kratzen der Handknöchel erhält dabei die Funktion eines Intermezzo. Exzesse freilich, wie das Scheuern ganzer Körperteile an Laternenmasten oder an den Türpfosten der Eisdielen, bleiben freilich das Privileg Einzelner, zudem meist Jugendlicher.
Meine Arbeit in Karlsruhe macht mir von Anfang an Freude und bringt schnell enge Beziehungen zur Stadt und ihren Menschen. Vieles der neuen Aufgabe ist notgedrungen ortsbezogen, denn auch im Naturkundemuseum wird zwangsläufig ein großer Teil der Arbeit durch die Bevölkerung vor Ort mitbestimmt. Als ich Frankfurt verließ, warnte mich eine ehrenamtliche Mitarbeiterin, eine feine alte Dame, die lange im Konsulat in Basel gearbeitet hatte, vor den Badenern. Die Einzelheiten verschweige ich hier, zumal sich die Warnungen in Karlsruhe nicht bestätigt haben. Natürlich geht vieles nicht nach Wunsch, und menschliche Unzulänglichkeit, Bosheit, Vorurteil und Nachtragend-Sein sind bewährte Stolpersteine - hier wie anderswo. Aber was wäre das Badische Schneckesüpple ohne Salz? Und sicherlich müssen gelegentlich die Schatten ihre kleinen Triumphe feiern und die schwülen Wetterlagen zur Flucht auffordern, damit die Stadt mit der Ruhe ihrer klassizistischen und bürgerlichen Bauwerke, der mir so lieben Farbpalette ihrer Gärten und Parks, der Vielfalt und Schönheit ihrer Umgebung, der abendlichen Beschaulichkeit ihrer Straßen und Biergärten nicht als ein Garten Eden missverstanden wird.

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